Der Abend beginnt auf einer Privat-Terrasse. Nicht im Gelände-Gedränge.
Weisswein, Apérohäppchen, Sicht auf ein plätscherndes Bächlein im beschaulichen Toggenburger Ort Lichtensteig. Mehrere Frauen - gut, zwei Ehemänner sind auch dabei - stossen auf den bevorstehenden Ausgang an.
Was nach lockerem Zusammenkommen unter Freundinnen aussieht, Lippenstift-Austausch inklusive, ist auch: orchestrierter Wahlkampf.
Eingefädelt von Susanne Vincenz-Stauffacher, der Chefin der FDP-Frauen.
Ihre Aufgabe ist es, den Frauenanteil der Partei bei den Wahlen im Herbst zu steigern. So bindet Vincenz-Stauffacher, Nationalrätin für den Kanton St. Gallen, «bewusst FDP-Frauenkandidatinnen in eigene Wahlkampfaktivitäten ein». Um diese bekannt zu machen.
Die Gastgeberin der Terrasse, sie ist Kandidatin auf der Umweltfreisinnigen-Liste (Regula Kündig). Ebenfalls anwesend ist eine Kandidatin der Hauptliste (Andrea Abderhalden) sowie eine der Frauenliste (Tochter Lisa Vincenz).
Susanne Vincenz-Stauffacher hat 2020 Doris Fiala als FDP-Frauen-Chefin beerbt. Seither ist sie, die erst seit 2019 in Bern politisiert, landesweit immer mal wieder in den Schlagzeilen. Etwa dann, als die FDP Nein sagte zu zwei Wochen Vaterschaftsurlaub, die FDP-Frauen indes Ja.
«Mehr Frauen tun der Partei als Ganzes gut», ist Vincenz-Stauffacher überzeugt.
Nur: Das umzusetzen ist nicht einfach.
Mit der Frauenwahl 2019 konnte zwar auch die FDP drei Frauensitze im Nationalrat dazugewinnen. Damit sind beim Freisinn 10 von 29 Sitze von Frauen besetzt, das sind 34 Prozent. Zum Vergleich: Der Frauendurchschnitt im Nationalrat beträgt 42 Prozent.
Noch schlechter sieht es im Ständerat aus: Dort stellt die FDP mit Johanna Gapany (FR) nur gerade eine einzige Frau. Neben elf Männern. (Gut, vielleicht, die Wahlchancen sind intakt, holt Regine Sauter in Zürich den Sitz des zurücktretenden Ruedi Noser.)
Luft nach oben also. Das weiss Vincenz-Stauffacher. Sie selber scheiterte bereits zweimal am Stöckli, das erste Mal 2019, als die FDP nach der Wahl von Karin Keller-Sutter in den Bundesrat ihren Sitz an Benedikt Würth von der Mitte verlor. Das zweite Mal diesen Frühling, als sich Vincenz-Stauffacher vor dem zweiten Wahlgang zugunsten von SVP-Frau Esther Friedli zurückzog.
Was tun? «Wir Frauen müssen für Gleichberechtigung hinstehen, wenn nötig unbequem sein», sagt Vincenz-Stauffacher. «‹Du kannst das!› muss das Motto sein», so führe sie die FDP-Frauen. Und stehe Kandidatinnen mit Rat und Tat zur Seite.
Den Begriff «Feministin», den mag sie nicht. Klinge zu sehr nach Opfergehabe. «Bürgerliche Feministin», das entspreche ihr eher, da schwinge mit, worum es ihr gehe: «Um Empowerment, Ermächtigung, Befähigung.»
Die Frauengruppe um Vincenz-Stauffacher mischt sich unters Festival-Publikum, die beiden Männer ziehen es vor, auf der Terrasse zu bleiben. Nur wenige Gehminuten von der Terrasse entfernt befindet sich der Eingang zu den Jazztagen.
Dort in den Gassen des Städtchens herrscht Trubel. Heiterkeit. Wer gestuhlte Konzertreihen mit andächtigem Schweigen zu Jazz-Klängen erwartet, liegt falsch. Zwar gibt es durchaus kostenpflichtige Konzerte - an jenem Abend etwa für einen der Hauptacts, Bastian Baker.
Leutseliger indes: Sich durch die gut besuchten Gassen von Lichtensteig treiben lassen. Vorbei an Essensständen, Bars, einer laut aufspielenden Blasmusik. Und einem überlebensgrossen Plakat von Jörg Abderhalden, dem erfolgreichsten Schwinger der Geschichte und Ehemann vom Vincenz-Stauffachers Polit-Freundin Abderhalden.
Vincenz-Stauffacher wird immer wieder erkannt. Scheint das zu geniessen. Hält lachend alle paar Meter einen Schwatz.
Als Gruppe zusammenzubleiben ist nicht einfach. Vincenz-Stauffachers jüngere Tochter Lara - sie studiert Psychologie und ist nicht politisch aktiv - sehen wir erst später am Abend wieder.
Privilegiert sei sie aufgewachsen, sagt Vincenz-Stauffacher.
Machte sich mit 25 Jahren als Anwältin selbstständig. Heiratete. Übrigens, den Ledignamen «Stauffacher» voranzustellen sei für den Mann ein «No-go» und ihr damals noch zu wenig wichtig gewesen, deshalb heute der Doppelname.
Mit 28 der Schock. «Ich brachte meine erste Tochter Lisa auf die Welt - und bin auch nochmals auf die Welt gekommen», sagt Vincenz-Stauffacher. Das habe sie politisiert.
Die allgemeine Erwartungshaltung - «die Mutter bleibt zuhause, steckt beruflich zurück» - mache sie heute noch wütend. Sie und der Mann wollten die Betreuungsarbeit aufteilen, doch habe er nicht auf 80 Prozent reduzieren können. «Dass ich trotzdem weiterarbeiten konnte, war nur dank der Grosseltern möglich.»
Eben, priviliegiert, das sei ihr sehr bewusst.
Seither ist Vincenz-Stauffacher: gegen patriarchale Strukturen. Gegen Altherrenvereine. Für progressives Denken. Für flächendeckende KITAs.
So hat sie dafür gestimmt, dass der Bund die Anschubfinanzierung für KITAs weiterführen soll. Hat ein Gesetz, das die Lohnungleichheit bekämpfen soll, unterstützt. War für eine Frauenquote für grosse, börsenkotierte Unternehmen.
Ihre Partei - jedesmal - dagegen.
Leiden Sie in der FDP, Frau Vincenz-Stauffacher?
«Habe ich auch schon, ja. Das Wissen um die Wichtigkeit der Gleichstellung nimmt aber auch bei Bürgerlichen zu, zum Glück.»
Gleichstellung sei kein linkes Anliegen. Sondern ein gesellschaftliches. Ein ökonomisches.
Vincenz-Stauffacher hat in einer «kurzen Revoluzzerphase in der Jugend mit der SP geliebäugelt». Doch die SP sei ihr schnell zu sehr «Bittstellerin beim Staat» gewesen.
Sie aufgrund dieser Differenzen zur eigenen Partei für eine Linke zu halten, wäre falsch. «Grundfalsch.»
Heute findet sie, dass die Anschubfinanzierung für KITAs «bitte baldmöglichst enden» soll, man könne ja nicht ewig Geld geben. Sie unterstützt aber einen Bundesbeitrag für eine Vergünstigung der Elternbeiträge. Die Frauenquote sieht sie inzwischen ebenfalls kritisch, lediglich für eine Übergangsphase habe sie diese unterstützt. Und bei der Lohnungleichheit ist sie gegen weitere Verschärfungen, auch sanktioniert sollten fehlbare Unternehmen laut Vincenz-Stauffacher nicht werden.
In einer Nebengasse steht Vincenz-Stauffachers ältere Tochter Lisa an einem weissen, runden Plastikstehtischchen, auf welchem Werbung für ein Getränk prangt. Sie steckt das Handy weg, nimmt einen Schluck ihres alkoholfreien Biers.
Die Mutter und ihre beiden Gspänli posieren einige Meter weiter im Menschengewühl mit ihren Bier-Bechern für die Video-Journalistin. Lisa Vincenz beobachtet die Szene lachend.
Sie ist selbstständige Anwältin, in der Kanzlei der Mutter ein-, und mittlerweile zur Partnerin aufgestiegen. Daneben ist sie persönliche Mitarbeiterin und Wahlkampfleiterin von Vincenz-Stauffacher.
Geht das gut? «Erstaunlich gut», sagt die 27-Jährige. Die Rolle müsse einfach immer klar sein. «In der Politik ist sie meine Chefin, in der Kanzlei sind wir gleichberechtigte Partnerinnen und privat ist sie einfach mein Mami.»
Wie nah sich Mutter und Tochter stehen, wird etwas später beim Anstehen an einem Essensstand augenfällig: Ausser Rufweite voneinander kommunizieren die beiden schlicht via Blickkontakt und Zeichen. Oft erprobt sei das, sagt Lisa. «Funktioniert bestens.»
Der grösste Erfolg dieser Legislatur ist für Vincenz-Stauffacher klar: «Dass die FDP-Frauen die Volksinitiative für eine Individual-besteuerung einreichen konnten.» Diese fordert, dass Frauen und Männer unabhängig von ihrem Zivilstand besteuert werden.
Während Vincenz-Stauffacher und ihre FDP-Frauen mit der Initiative zur Individualbesteuerung eine Volksabstimmung lancieren, die bis weit in die Linke Unterstützung findet, hat es die Mutterpartei dieses Jahr (Stichwort Debatte um die Waffenexporte) nicht nur einfach.
Ein Blick auf das neuste SRG-Wahlbarometer zeigt: Die Kampfansage von FDP-Chef Thierry Burkart, er wolle die SP (17,8 Prozent Wähleranteil) als zweitstärkste Kraft überholen: ziemlich chancenlos.
Mit 14,6 Prozent Wähleranteil (-0,5 Prozentpunkte) muss der Freisinn froh sein, wenn er nicht selber überholt wird. Die Mitte ist ihm mit 14,3 Prozent Wähleranteil dicht auf den Fersen (Fehlerbereich +/- 1,2 Prozentpunkte). Dazu Vincenz-Stauffacher: «Ich fürchte keine Abwahl unseres zweiten Bundesratssitzes. Abwahlen sind in der Schweiz höchst selten.»
Apropos Bundesrat: Im wichtigen Europadossier von FDP-Aussenminister Ignazio Cassis herrscht Stillstand, seit Jahren.
Und dann natürlich, der nach Corona grösste Schock dieser Legislatur: Die Credit Suisse, die im März kollabierte, gerettet werden musste, 3000 Menschen den Job kostete. Laut SRG-Wahlbarometer sehen 58 Prozent der Befragten das als grössten Aufreger.
Von allen Seiten dafür angegriffen: die FDP, die Wirtschaftspartei, traditionell nah bei den Banken.
Vincenz-Stauffacher sieht es anders: «Das CS-Versagen wird sachfremd und faktenfrei uns von der FDP angelastet.» Dabei sei es dem «umsichtigen und raschen Handeln von FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter zu verdanken, dass ein grosser Schaden vom Wirtschaftsstandort Schweiz abgewendet» werden konnte. «Und», sagt Vincenz-Stauffacher, «wie wir jetzt wissen, hat die UBS ersatzlos auf die Bundesgarantien verzichtet.»
Was erhoffen Sie sich von der parlamentarischen Untersuchungskommission PUK? «Hier Ergebnisse vorwegzunehmen, wäre verfrüht», sagt Vincenz-Stauffacher. Es sei Aufgabe der PUK, nun gutschweizerisch alle Vorkommnisse zu analysieren. Erst dann könnten allfällige nächste Schritte eingeleitet werden.
Eine Herausforderung für Politiker und Politikerinnen ist es, zu mobilisieren.
Die Politikverdrossenheit in der Schweiz ist hoch, bei Abstimmungen wie Wahlen. Bei den letzten Nationalratswahlen 2019 lag die Wahlbeteiligung laut Bundesamt für Statistik BfS bei nur gerade 45,1 Prozent.
Wir machen den Test, sprechen nach Zufallsprinzip Leute an. Wie bekannt Vincenz-Stauffacher ist – und ob sie an den Jazztagen Lichtensteig gewählt werden würde –, siehst du im Video hier.
Mit den Jazztagen Lichtensteig will Vincenz-Stauffacher zeigen, wie vielfältig sich das Toggenburg präsentiere. Der Veranstaltungsort sei idyllisch - Lichtensteig wurde dieses Jahr mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet - das Programm ansprechend.
Das Konzert der Soulsängerin Caroline Chevin beginnt - darauf freut sich Vincenz-Stauffacher seit Stunden. Sie wollte deren Hit «Hey World» gerne einmal live hören. Doch die Arbeit, genauer das Interview, hat Vorrang. Also lässt Vincenz-Stauffacher ihre Gspänli alleine ziehen.
Mit fortschreitendem Abend steigt der Lärmpegel in den Gassen. Sich ohne Anschreien zu unterhalten wird schwierig. Deshalb erneuter Standort-Wechsel, beladen mit Frühlingsrollen und Pommes Frites geht es zurück auf die Terrasse, auf welcher der Abend begann.
Eine der grössten politischen Herausforderungen ist der Klimawandel. Beim letzten Wahlkampf hat die FDP unter der damaligen Chefin Petra Gössi alles gegeben, um eine grüne Wende hinzulegen. Ein Kurs, welcher der «Umweltfreisinnigen» Vincenz-Stauffacher passte. Sie ist Mitglied der gleichnamigen Sektion der FDP St. Gallen, sitzt im Parlament in der einflussreichen Kommission für Umwelt und Energie (UREK). Ist für Lenkungsabgaben.
Der aktuelle Präsident Thierry Burkart setzt vor allem auf Innovation und neuen Atomstrom. Ärgert sich Vincenz-Stauffacher, die nach Gössis Rücktritt für das höchste Partei-Amt im Gespräch war, über den Klima-Kurs Burkarts?
«Ärgern? Nein», sagt Vincenz-Stauffacher. Die Gemeinsamkeiten würden die Differenzen überwiegen. «Ich bin für Anreize, nicht für Verbote.» Sie wolle Herrn Meier nicht verbieten, eine Ölheizung zu haben. Vielmehr wolle sie ihm - notfalls durch finanzielle Anreize - zeigen, dass eine Wärmepumpe die ökologischere Lösung sei.
Auch wenn die Linken das nicht gerne hören würden, eine Wärmepumpe brauche Strom. Um die Energieversorgung sicherzustellen - «für die Wirtschaft, für uns alle» - gehe es notfalls nicht ohne AKW-Strom. Selbstredend aber nur solchen einer neuen AKW-Generation.
Lieber als auf neue AKW setzt die Präsidentin der Wasserkraftbranche ohnehin auf: genau, Wasserkraft. «Zum Beispiel, indem wir bei den Gletschervorfeldern - dem Gebiet, dass durch den Rückzug der Gletscher frei wird - zusätzliche Staumauern bauen.» Da sei abzuwägen zwischen dem Schutz der Natur und dem Nutzen für die Versorgungssicherheit.
Inzwischen ist die Sonne untergegangen, es hat angenehm abgekühlt. Vincenz-Stauffacher, Ombudsfrau, Präsidentin der Opferhilfe St. Gallen und beider Appenzell, wird nachdenklich. Blickt von der Terrasse in die Toggenburger Natur.
«Nicht alle haben es so gut wie ich.» Sie stehe ein für ein Land, in dem sich alle frei entfalten können - und es doch ein soziales Netz gibt, das auffange.
Doch Missbrauch der Sozialwerke, der mache sie wütend, «da reagiere ich empfindlich». Genauso wie auf Asylbewerber, die nach Wegweisungen nicht ausreisten. «Hier setze ich mich für eine konsequente Umsetzung des Rechts ein.» Dass die Partei nun im Wahlkampf ebenfalls auf Migrationspolitik setzt, das SVP-Thema, findet Vincenz-Stauffacher richtig.
«Inhaltlich schwierig» hingegen findet sie die in zahlreichen Kantonen eingegangenen Listenverbindungen mit der SVP. Diese seien zwar «mathematisch je nach Konstellation nachvollziehbar». Doch dass FDP-Stimmen damit auch der SVP helfen, «verfälsche den Willen der Wählenden».
Ein Blick auf die Uhr. Vincenz-Stauffacher verzieht das Gesicht.
Das Konzert von Caroline Chevin ging bereits über die Bühne - ohne sie.
Halb so wild. Lauscht sie halt später vor der Hauptbühne zwischen Wohnhäusern und Kreisgericht Singer-Songwriter Marius Bear.
Auf dem Selfie aus der Menge, das Lisa Vincenz später schickt, lachen Mutter und Tochter um die Wette.
Typisches Ablenkungsmanöver. Auch wenn KKS ihren Job erledigt hat, waren trotzdem Exponenten aus dem FDP-Umfeld am CS-Niedergang beteiligt. Die "eigene" Sauerei aufräumen ist ja wohl das Mindeste!